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Where Are We Now? And why are we here now?

Thema:
Bestandsaufnahmen in der kuratorischen Praxis
DATUM:
February 17, 2023
(Photo: Kirsten Pieroth, Berliner Pfütze (Neukölln) (2020) | Andreas Gursky, Antarctic (2010) im Gropius Bau Berlin@Kirsten Kohlhaw)

Im Wirbel von Bestandsaufnahmen

Wo befinden wir uns? Mit den Füßen, dem Becken, dem Körper auf der Erde, in Verbindung mit der ununterbrochenen, un-hinterfragten Unterstützung die uns die Schwerkraft bietet. Eine senkrechte Verankerung in den gegenwärtigen Moment. Tausendmal vervielfacht in einem Geflecht aus radikanten Ver- und Entwurzelungen.

Gleichzeitig schweben wir, schnappen im Rhythmus mechanischer Inputs nach Luft. Außer Stande, die uns umgebenden Informationen in unsere Körper aufzunehmen, sie erlebbar zu machen. Mit einer andauernden, nie nachlassenden Aktualität konfrontieren uns die Krisen der Zeit. Im Wirken immer dringlicher werdent, aber gleichzeitig schon seit Jahrzehnten  andauernd heben sie uns aus der Verankerung und lassen uns immer öfter orientierungslos zurück. Polarisierungen, De-Humanisierung, Kriege, Armuts-und Klimakatastrophen, Pandemien.


Auf welche Wahrnehmungen lässt es sich da zum Begreifen der Gegenwart verlassen? Wo sind wir und warum sind wir hier?


Seit den späten sechziger Jahren verknüpft sich auch das Feld der Kunst- und Kultur immer enger mit Belangen von ökologischer Politik, Aktivismus und Umweltbewusstsein. Damit zusammenhängend tauchen Fragen auf, was uns bis hierhin brachte, was eigentlich gerade passiert und wie ein Weitermachen möglich, im besten Fall anders möglich ist. Bestandsaufnahmen. Eine ganze Reihe davon. Ausstellungen wie Radical Nature. Art and Architecture for a Changing Planet (1969-2009) im Barbican Center London, oder Forschungsreihen wie die des Haus der Kulturen der Welt, die seit 2013 untersucht, wie planetarische und krisenhafte Transformationen des Anthropozäns versteh-, erfahr- und gestaltbar gemacht werden können. 2017 fand dort auch eine Diskursreihe mit dem Titel Why are we here now? statt. Und wie David Bowie in seinem Lied singt Where Are We Now?, so lautete auch das Leitmotiv des steirischen Herbstes in Graz zum 50. Jubiläumsjahr 2017. Im selben Jahr inszenierte Falk Richter Verräter. Die letzen Tage am Gorki Theater in Berlin. Einen bombastisch lauten Overload an Katatrophen Nachrichten, Trumps und noch mehr Trumps, persönliche Schicksale im Netz der Gesellschaft. Vor allem aber auch: Wo sind wir? Was hat uns hierher gebracht? Was ist uns entgangen? Warum können wir weder vorwärts noch rückwärts? – Warum sind wir "… zugleich mobilisiert für die Front vorne und demobilisiert für die Etappe hinten“, wie Bruno Latour in seinem terrestrischen Manifest (2017) unseren Zwischenzustand beschreibt. Einen der immer mehr vom lähmenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit erfüllt wird. Nach dem englischen Titel des Buches Down To Earth lief diese Jahr eine Ausstellung im Rahmen von Immersion im Martin Gropius Bau (2020), und fand das Research Lab der Tanzfabrik Berlin statt, dass ich ko-kuratierte. Dieser Hoffnungslosigkeit zu begegnen und Wege zu finden eine hoffnungsvolle Zukunft zu zeichnen, die weder ignorant noch naiv den Fakten gegenwärtiger Krisen begegnet, war ein Hauptanliegen des kollaborativen Austausches.

Die Fragen nach dem Status quo unserer sozio-politischen Welt stellen sich bei allen möglichen Gelegenheiten, bei Jahresrückblicken, Wahlen, politischen Entscheidungen, nach menschlichen- oder Naturkatastrophen. Aber eben auch in Diskurs- und Kunstveranstaltungen, deren Liste ließe sich natürlich fortführen und bleibt in ihrem Versuch ein akkurates Bild zu zeichnen unvollständig. Verweist aber auf das tiefe Bedürfnis und die Notwenigkeit von Bestandsaufnahmen. Ein Appell an die gegenwärtigen Situationen, ihre gesellschaftliche Atmosphäre und politischen, wie sozialen Entscheidungen zu analysieren und zu verstehen.

Was sich aus dem Research Lab entwickelte, war vor allem eine Erfahrung des Gemeinsamen. Etwas, das auch Bestandsaufnahmen auszeichnet: sie versuchen die Welt wieder zu einer geteilten zu machen. Wie können wir solche Erfahrungen ausweiten und befördern?

Zwei Herausforderungen drängen sich auf. Zum einen, der Begriff der Gegenwart. Der Zeitgenosse/die Zeitgenossin entfaltet sich nur ungern wirklich vor uns, denn er/sie ist immer schon von der Vergangenheit und der Zukunft durchdrungen. Indem seine Stand- und Zeitorte unterschiedliche sind. Was ist das Gefühl für ein Jetzt? Es gibt keine Mitte, ohne über einen Anfang und ein Ende, oder aber auch um den sie umgebenden Kreis nachzudenken, die ihr bereits eingeschrieben sind. Wenn wir an einen gegenwärtigen Moment denken, ist unser denkender Verstand bereits voraus, ohne die Fähigkeit, sich von den vergangenen Ereignissen, von den Erinnerungen, die jeder einzelne und auch der kollektive Körper und Geist mit sich trägt, lösen zu können.

Darüber hinaus müssen wir eine andere, wichtigere Frage stellen. Wer ist das "wir" in diesen Sätzen? Die beiden vorgestellten Fragen beanspruchen eine gemeinsame Perspektive, einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Aber es gibt kein kollektives "Wir", von dem aus diese Fragen beantwortet werden können. Jedem einzelnen Menschen sind seine eigenen Erfahrungen und Geschichten eingeschrieben, verschiedene Gruppen von Menschen teilen sich bestimmte Aspekte dieser Geschichten und Vergangenheit. Zugehörigkeit kann sich auf vielen Ebenen einstellen und ist essentiell, lässt aber immer auch die Gefahr von Abgrenzung mitschwingen. Wie Toni Morrison in ihrem Essay Die Heimat des Fremden beschreibt, zieht die zunehmende Unschärfe zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten ein sich rasant zersetzendes Gefühl von Zugehörigkeit mit sich und ein Unbehagen angesichts unserer Empfindungen von Fremdheit.

Das bedeutet, dass wir als Ausgangspunkt zunächst einmal eine andere Frage stellen müssen, die es uns erlaubt, die Position, von der aus wir sprechen, zu überdenken. Wo wir stehen und welche unterschiedlichen Perspektiven des Status quo es gibt. Wie viele verschiedene Geschichten sind über die scheinbar gleichen Ereignisse geschrieben worden und tragen eine unterschiedliche Perspektive des "Warum" der Gegenwart und auch des "Wo", das eine andere Position vieler Menschen beschreibt. Indem wir diese Fragen aus verschiedenen Perspektiven beantworten, können wir einen Ansatz finden, um uns Elemente einer gemeinsamen Zukunft vorzustellen, ohne das Nichtgeteilte zu ignorieren.

Es ist diese Zugehörigkeit, die wir neu definieren müssen. Die sich abseits von den schnell greifbaren Kategorien finden lässt. Die Aufmerksamkeit, verschiedene Zeiträume und Orte braucht. Die sich Asymmetrien bewusst ist. Solche Räume zu ermöglichen, das muss die kuratorische Praxis des Jetzt sein. Ein Abwenden von einem Streben nach Eindeutigkeit, Sicherheit, Beschütztsein und Bescheid-Wissen. Ein Vorhaben das möglicherweise nur aus der von Sicherheit geprägten, priveligierten  Perspektive heraus formuliert werden kann. Aber dennoch, wie können wir uns mehr einlassen auf Komplexitäten undUnsicherheiten, auf Nicht-Eindeutiges. Wie mit der Schwerkraft tanzen und sich ihre Unterstützung als Standhaftigkeit zu eigen machen. Sich an den Boden binden – Down To Earth – und mit Latour gehend gleichzeitig welthaft bleiben. Genau hier müssen wir auf den Körper kommen. Auf das Spiel mit der Schwerkraft die auf der einen Seite Sicherheit gibt und verankert, und auf der anderen Mobilität erlaubt, Reaktionsfähigkeit fördert und offene Bereitschaft signalisiert. Unser Körper ist die Wahrnehmungszone, von der aus wir uns bestimmen, von wo aus wir uns orten können. Das bestimmt die Fähigkeit einer Öffnung nach außen und unser Verhältnis zur Umwelt. Nur durch die stabile Verankerung durch und mit der Schwerkraft verschließt sich der Körper nicht, lässt Zugehörigkeit passieren. Um mit einer anderen musikalischer Referenz auf die Frage Bowies zu antworten: Wir sind hier und überall, so „don’t stop moving together, keep on dancing“ (by Jessi Ware).


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